DER LUMPENHUND
Ich war wieder mit der S-Bahn in Berlin unterwegs und fuhr auf dem kleinen Ring von West nach Ost. Da ich einige Stationen vor mir hatte, setzte ich mich auf einen der Dreiersitze. Mir gegenüber saßen eine junge Frau, die offensichtlich aus der Geschäftswelt kam, im dunklen Kostüm mit Rock und leichter Jacke und ein älterer Mann, der wohl eher aus einer anderen Welt kam.
Zwischen ihr und dem Mann, der neben ihr saß, war ein Platz frei geblieben. Er sah ordentlich gekleidet aus, hatte einen Rucksack bei sich und schien recht redselig.
Nachdem ich noch einige Nachrichten auf dem Smartphone, von mir liebevoll „Schlauphone“ genannt, gelesen hatte, verfolgte ich ungewollt der Unterhaltung, die mir anfangs recht einseitig erschien. Der Mann sprach die Businesslady, wie ich sie gedanklich nannte, an und versuchte, sie in ein Gespräch zu verwickeln.
Mir ging sofort ein Gedanke durch den Kopf: „Das geht schief.“ Ich malte mir schon aus, wie es weitergehen würde: Sie würde sich bedrängt und belästigt fühlen, er wäre dann beleidigt und ein Wortgefecht würde entfacht. Irgendwann hörte ich ihn sagen: „Das sind schöne Ohrringe.“ Und sie antwortete mit einem „Danke“. „Sind die echt?“, fragte er weiter. Ich überlegte mir schon mal, ab welchen Punkt, ich wohl gegebenenfalls schützend eingreifen müsste.
Doch es kam ganz anders. Die Frau schloss das Buch, in dem sie bis davor gelesen hatte, und wandte sich dem Mann zu: „Nein, das ist Modeschmuck“, lächelte sie. „Ich hatte auch mal welche. War´n Geschenk von ´nem Freund – echt goldene! Ich habe sie ihm mitgegeben … als er starb. Hab sie in die Urne gepackt“, sagte er weiter.
Die Frau schaute etwas bedrückt. „Hab ihn eine ganze Weile gepflegt, als wir zusammen wohnten. Das macht man so … für nen Kumpel, aber er hat es leider nicht geschafft.“ Die Geschäftsfrau war jetzt in meiner Wahrnehmung, ergriffen von seiner Erzählung und es geraten ihr Tränen in die Augen.
„Ich habe meinen Vater auch gepflegt … bis ich es nicht mehr konnte“, sagte sie während sie ihn sehr zugewandt in die Augen sah. „Und jetzt wohnen sie alleine?“ „Nee, nun bin ich ein Lumpenhund und lebe auf der Straße. Alleine will ich nicht wohnen.“ Dann klopfte er auf seinen Rucksack: „Da ist alles drin, was ich so brauche.“ Die Frau tupfte sich die Tränen ab. Diese Geschichte und seine Worte gingen ihr offenbar sehr nahe.
„Ich brauche nicht viel und das, was ich zum Leben brauche, passt in diesen Rucksack.“ „So, aber hier muss ick raus. War sehr schön mit ihnen zu plaudern. Alles Jute für sie alle!“, sagte er im Aufstehen, das ihm sichtlich schwer fiel. Die Frau sah ihm nach als er ausstieg und er sich seine Sachen zurechtrückte. „Ihnen auch alles Gute!“, rief sie ihm hinterher … immer noch im Gedanken berührt und vertieft. Mir ging es nicht anders.
Wie oft hatte ich schon Menschen in ähnlicher Situation in den Bahnen getroffen, mich gefragt, wie sie in diese Lage gekommen waren. Manchmal hatte ich ein paar Münzen gegeben … manchmal hatte ich mich über den Geruch, den leider einige mit sich brachten, geärgert. Obwohl ich keine Ahnung hatte, wer diese Menschen waren und warum sie so lebten.
Wie so oft schauen wir weg, sehen herab oder verweigern jede Kommunikation! Manchmal ist ein klein bisschen Menschlichkeit, Aufmerksamkeit oder Zuwendung schon alles, was sich der andere wünscht.
Wenn Du diese Geschichte jetzt gelesen hast, … vielleicht erkennst Du Dich darin wieder? Manchmal sind es kleine Momente in unserem Leben, die sich als etwas ganz Besonderes zeigen. Sie dienen als „Augenöffner“, um zu erkennen, was wirklich zählt im Leben.
Einen wunderschönen Tag mit vielen inspirierenden Momenten.
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