Alltagsgschichten aus der B102 #4

Persönliches

Wir begannen unsere Gruppentherapie mit Arzt und Schwestern meistens gleich nach dem Frühstück um 8.00 Uhr. Die Sessel mussten im Kreis aufgestellt werden, der Raum mit frischen Sauerstoff gefüllt sein, ja und es wäre nicht schlecht wenn man ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit mitbringen würde bzw. könnte. Zwei  Themen mussten wir uns vor ab überlegen, die dann in der Stunde behandelt werden sollten. Jeweils ein aktuelles und persönliches. Es wurde dann in der Gruppe abgestimmt welches dieser Themen am Dringendsten war oder welches dieser Vorschläge für einen selbst interessant erschien. Jeder musste sich einbringen, sich dazu äussern und musste ganz wertfrei zu der betroffenen Patientin stehen – die übrigens nach Abstimmung, ihr ganz persönliches Thema vor allen vortragen musste! Dabei sollte auch eine Lösung herauskommen.So in etwa war der Ablauf dieser Stunde.

Atmen, zählen, Achtsamkeitsübungen

oder auch manchmal einer kurzen Geschichte lauschen …

Diese Dinge sollten dazu beitragen die Stunde gut einzuleiten, sich zu sammeln und sich zu konzentrieren. Diese erste Stunde war für mich eine mittlere Katastrophe! Viel zu viele Menschen in einem, für mich viel zu kleinen, Raum, mit einem Arzt der mir nicht lag und „Übungen“ die ich sehr doof fand. Gabriela und Evi  waren in dieser Gruppe ebenfalls eingeteilt, das blieb auch die restliche Zeit so. Das machte es für mich etwas einfacher … ein wenig.

Während der Achtsamkeitsübung, in der diesmal alle die Augen schliessen mussten weil wir auf unseren Atem achten sollten und uns auf die Geräusche im Raum konzentrieren usw. Mehr weiß ich nicht mehr, da ich in der Zeit anderweitig beschäftigt war. Ich „musterte“ alle Anwesenden im Raum … besonders „Dr. Liebling“, wie ich ihn hier nenne.

Er erfüllte absolut nicht das Klischee eines Arztes

Ich sah, dass ER wirklich die Augen geschlossen hielt, tief ein und ausatmete, an seinem dicken goldenen Ehering drehte. Dabei sah ich mir seine Hände an. Grosse gepflegte schöne Hände und Finger sah ich. Dafür trug er abgelatschte Birkis, einen schwarzen und einen dunkelblauen Socken – was mich zum Schmunzeln brachte. Seine Jeans schien mir auch irgendwie versudelt genauso wie sein kleinkariertes Hemd, über dem er einen viel zu grossen Arzt-Mantel trug.

Ich glaube es war Gabriela, die bemerkte das ich nicht das machte was ich sollte, weil sie ebenfalls ihre Augen durch die Runde gleiten lies! Wir lächelten beide und wurden zeitgleich in die Gegenwart durch ein lautes: „Na, wie ist es ihnen dabei ergangen?“ zurückgeholt. Es folgte ein Abfragen jedes Einzelnen. Ich wiederholte einfach das was die anderen vor mir gesagt hatten und ich merkte das meine Stimme beinahe versagte und sehr belegt war. „Dr. Liebling“ hatte mich glaube ich durchschaut – er zog nämlich seinen Mundwinkel unzufrieden nach oben, was mich schon wieder zum „Kochen“ brachte!

Die Befindlichkeitsrunde folgte

Bitte was sollte das jetzt? Auf einer Skala von 1-10 mussten wir beschreiben wie und vor allem warum wir uns so fühlen wie wir uns fühlen. Ich fühlte mich mehr und mehr unwohler. Meine Beine waren hippelig, mein Gefühl keine Luft zu bekommen kündigte sich an. Mein Zimmerkollegin stand plötzlich auf und kam kurz darauf mit 2 Coolbags wieder. Einer mitten am Kopf platziert den anderen in ihr unübersehbares Dekolte gepackt. Ich musste mich jetzt konzentrieren konnte aber nicht denken. ICH war an der Reihe. Schon sein Blick machte mich nervös bevor er mich fragte: „Und? Wie sieht es bei ihnen aus?“

„ICH fühl mich unwohl in der Gruppe, außerdem passe ich hier nicht her!“ war meine Antwort, schwer verständlich da meine Stimme mich immer wieder verließ. „Aha, mhm … nämlich weeeiilll?“ fragte er nach und betonte das „weil“ abtrieben lange. An weiteres konnte ich mich nicht mehr erinnern. Ich klinkte mich gedanklich total aus – machte zu. Game Over. Nicht nur in dieser Stunde, sondern für den Rest des Tages.

Wieder wollte ich meine Koffer packen

Im Zimmer angekommen beschloss ich wieder mal zu packen.Meine Zimmerkollegin erzählte mir, dass es ihr das erste Mal auch ähnlich ergangen ist. In der Zwischenzeit ist es völlig normal. SIE als Dauergast hatte natürlich schon so ihre Erfahrungen gesammelt. „Wenn es dir nicht gut geht dabei, hol dir von den Schwestern irgendwelche Skills, das hilft!“ Soso, jetzt verstand ich weshalb jede Zweite mit Igelball, Riechkissen oder Coolbags da saß …

Natürlich wurde meine „Handlung“ meiner Bezugsschwester mitgeteilt. Die mich dann auch relativ rasch aufsuchte. Aber auch bei ihr machte ich dicht. Ich sagte nix und beantwortete keine ihrer Fragen – nur ein „Ich kann diesen Arzt einfach nicht leiden!“ Gemerkt hatte ich mir nur diese Worte als sie sagte „Seine etwas „besondere“ Art ist Teil der Therapie „… ja, möglich, nur  dieser Mann machte mich „klein“, nahm mich nicht ernst und er provozierte mich alleine wenn er mich nur ansah! (Im Übrigen war ich mit dieser Meinung keinesfalls alleine …)

Ich freute mich auf die Kreativgruppe am Nachmittag!

Evi und ich waren gemeinsam mit 6 anderen. Sie war im Vorteil, sie war ja schon länger da als ich und erklärte mir worum es dabei ging. Ich platzte ja neu dazu und so sollte sich jeder nochmal vorstellen, etwas von sich erzählen inkl. seine „Befindlichkeit“ , die scheinbar hier ganz gross geschrieben wurde, abzugeben. Hier fiel es mir nicht schwer aufzupassen, dabei zu bleiben. Ich mochte die Therapeutin und die Mädels ebenso. Evi war sehr ruhig und sagte nicht viel, ihre Befindlichkeit war auf Level 6-7, mit Begründung das ihre Mum gerade in einer Chemo steckt und es ihr sehr schwer fällt, nicht bei ihr sein zu können. Die kurzen Sätze aus ihrem Munde drückten mir schon wieder Tränen in die Augen. Jede Einzelne erzählte und ich war von jeder einzelnen Geschichte so gerührt dass mir die Therapeutin Taschentücher reichte … Wie ich es hasste öffentlich zu weinen! Ich fühlte mich schlecht … ganz schlecht. Gefühle waren eben nicht so mein Ding. Wie war das mit dem Abgrenzen, was sie mir eingangs schon gesagt und ans Herz gelegt hatten … hier versagte ich kläglich.

Meine erste Aufgabe in dieser Stunde

Die erste Stunde wurde ja ausgefüllt mit Tränen, in der zweiten sollten wir ein Bild malen … besser gesagt unsere Gefühle malen in den wir gerade steckten. Und natürlich dem Ganzen einen Titel verpassen. Wir hatten alle Möglichkeiten alles war an Material vorhanden. Als ich die riesige Fläche aus Papier, die ich bemalen wollte, an die Wand klebte begann mein Herz zu pochen, so als könnten es alle im Raum hören. Ich machte Gebrauch davon mir eine Pause am Fenster zu geben. Es war mir wieder mal peinlich so schwach zu sein und mich einfach nicht in der Hand zu haben.

15 Minuten später pinselte ich drauf los. Ich war schnell und meine Hand samt Pinsel gleitete wie von selbst übers Papier. Unsere Therapeutin kam leise auf mich zu und meinte flüsternd: „Gut, jetzt nehmen sie Abstand und setzen sich davor – betrachten sie es ganz genau … was erkennen sie darin und vor allem was spüren sie beim Betrachten ihres Bildes …“

Erst jetzt wurde mir bewusst was ich da veranstaltet habe. Ein riesiger schwarzer Fleck der nach aussen hin etwas gräulich wurde. In der Mitte ein winziger roter Fleck, der nach unten auslief. DAS war mein endgültiges AUS des Tages.

„Das ist gut so wie es ist“, sagte sie, als sie merkte das ich mit den Tränen kämpfte. „Das ist ihr Inneres und so fühlen sie sich … präziser geht es gar nicht!“ Sie hatte sowas von recht!

Das Abendessen ließ ich aus und war heilfroh, dass alle meine „ich will nicht reden“ Phase ohne nur ein Wort zu fragen akzeptierten! Selbst meine Zimmerkollegin verließ das Zimmer mit den Worten „Brauchst du mich – ich bin draussen“. So konnte ich mich in Ruhe und lange genug unter die Dusche stellen, was ich immer tat wenn ich mich nicht mehr spürte …

Kennst du schon die weiteren Teile der Alltagsgeschichten?
Alltagsgeschichten B102 #1
Alltagsgeschichten B102 #2
Alltagsgeschichten B102 #3
Alltagsgeschichten B102 #4
Alltagsgeschichten B102 #5
Alltagsgeschichten B102 #6
Alltagsgeschichten B102 #7
Alltagsgeschichten B102 #8
Alltagsgeschichten B102 #9
Alltagsgeschichten B102 #10

Xo Sandra

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