Die Kreativgruppe machte mir Spass
Als jeder sein persönliches „Kunstwerk“ zu Ende gebracht hatte, sollte man sein Werk erklären … Gedanken und Gefühle waren in den 2 Stunden immer sehr wichtig. Wir waren eine gute Gruppe. Eine ruhige, eine die jedem mit sehr viel Respekt gegenüberstand. Und ich empfand das jede Einzelne sehr mit sich zu kämpfen hatte. Wir sollten auch gegenseitig unsere Kommentare zu dem Gemalten abgeben. Es war eine tolle erste Stunde für mich – auch wenn ICH über mein riesiges Gemaltes etwas erschrocken war. Professionell verstaut, ging es weiter zur nächsten Therapie.
Es war ein extrem heisser Sommer
Die Raucher genossen die freie Zeit auf dem verwachsenen, schattigen und grossen Balkon. Alle anderen hatten auch so ihre Beschäftigung gefunden. Meli, Gabriela, Evi und ich, kamen in der Gemeinschaftsecke zusammen. Wir beobachteten einige der Mädels, wie sie eifrig entweder etwas häkelten oder strickten. Es lagen Mützen und Decken gestapelt am Tisch. Die die eifrig die Nadeln klimpern liesen, erzählten uns dass sie von einer Schwester inspiriert wurden. Diese strickte während des Nacht-Dienstes eine Menge Beanies. Sah cool aus, war ganz einfach und auch ein sinnvoller Pausenfüller 🙂 .
Wir beschlossen Wolle und Nadeln zu kaufen!
Meli, Gabriela und ich beschlossen auch etwas zu machen. Evi blieb bei ihren 100 Lacken und ihren Fingernägeln, die sich beinahe täglich neu lackierte, wobei sie doch immer in der Runde sitzen blieb. Melanie war die Geschickte, Gabriela die Entschlossene, die auch gleich mit einer Decke für ihren süssen Sohn begann. Und ich? Mir war das irgendwie zu blöd und erinnerte mich an alte Leute, doch machen wollte ich aber trotzdem etwas. Mir ging es aber dabei um das Material das ich verwendete. Die Wolle, die weich und angenehm in meinen Fingern lag entschleunigte mich … eigentlich uns alle! Sie gab mir ein Gefühl der Geborgenheit.
Melanie hatte relativ schnell eine Mütze fertig und Gabriela bekam überall Wollreste geschenkt und strickte wie wild 🙂 . Wie sagte sie immer? „Pah jo, schön is was anderes … aber das wird schon!“ *lach* ICH … ich häkelte eine Voodoo-Puppe, klar , was sonst! Sogar meine Zimmerkollegin, der ich das absolut nicht zutraute, häkelte Eulen, Fledermäuse und was weiß ich was alles. Irgendwie entwickelte sich das Ganze zu einer Sucht, die uns aber gut tat und uns von vielen Dingen abhielt, die wir vielleicht sonst gemacht hätten!
Wir lernten uns immer besser kennen
Abends als es draussen wieder angenehme Temperaturen hatte blieben wir oft so lange sitzen bis wir zu Bett gehen mussten. Wir strickten und nähten zusammen, andere wieder wuzelten sich ihren Tabak für 1 Woche im Voraus, einige hörten Musik. Manche sah man gar nicht. So bildeten sich eben Grüppchen …
Meli und ich bemerkten, dass wir einige gemeinsame „Bekannte“ hatten und auch gemeinsame Vorlieben. Wie klein doch die Welt ist! Evi erzählte uns den Hintergrund ihrer Krankheit und des „nicht essen wollen“. Sie wurde schnell müde und ging auch früher schlafen. Gabriela … sie brachte uns sehr oft zum Lachen! Hörte gerne zu, fragte aber genau da nach , wo ein anderer wahrscheinlich sich nie trauen würde. Sie erzählte aber auch ohne Hemmungen über ihre Anliegen, Ängste und Sorgen. Manchmal gingen wir beide alleine spazieren und redeten über „Heikles“. Ich musste nach einiger Zeit feststellen, das ich von allen 3 Ladys einen Teil in mir trug. Und ich dachte immer ich sei ganz alleine mit diesen Themen …. Also war ich doch nicht so verkehrt hier …
Gabriela hatte eine Idee
Wir trafen uns am nächsten Morgen zum Frühstück, wobei sich Königin Gabriela immer gerne bitten ließ. Dann aber letztendlich im Eilschritt herbei huschte, in ihrem rosa Bademantel der gerade mal den Po bedeckte und, während sie hektisch ihre Semmel strich, verlautbarte „Ihr wisst ja, dass ich einen Bauchtanz-Kurs gemacht habe, ich habe die richtigen Bauchgürtel und die notwendige Musik zu Hause. Ich werde alles am Wochenende mitbringen und wir werden einen lustigen Abend verbringen!?“ Natürlich nur wenn ihr wollt!“ Dann schlürfte sie ihren Kaffee weiter und spitzte ihre Lippen dabei … SIE hatte heute morgen definitiv einen guten Tag! „Ja – das wird gemacht, wir brauchen auch wieder mal Spass!“ kam es von irgendwo rüber.
Das Wochenende war im Anmarsch und die Station lehrte sich wieder für 2 Tage
Mich zog es ohnehin nicht nach Hause. In der Wohnung lag zu viel negative Erinnerung, Schmerz und vor allem Traurigkeit. Ich blieb lieber hier. Hier hatte ich das Gefühl Unterstützung zu haben falls ich sie brauchte. Frauen, die Familie zu Hause hatten sollten am Wochenende bei der Familie sein. Immer mit der Option, zu jeder Zeit wieder herkommen zu können, wenn es für sie nicht erträglich war.
Eine Patientin, die ebenfalls nicht nach Hause wollte und ich beschlossen ans Wasser zu maschieren. Sie nahm ihre Gitarre mit und so gingen wir zur Donau. Ein sehr hübsches Mädchen das auch nicht auf die Butterseite des Lebens gefallen ist. Sie bezeichnete mich mal als „ihre Heldin des Tages“, als jeder sich in der Gruppe einen Menschen suchen sollte den er bewundert, weil er für alles immer eine Lösung hatte und mutig war. Ich war damals sehr gerührt über ihre Nominierung, ich hätte ihre Mutter sein können. Ja für andere war es mir immer leicht ein richtiges Wort auf den Lippen zu haben, ordentliche Vorschläge und Lösungen zu erarbeiten und dabei zu helfen … aber bei mir selbst – versagte ich kläglich 🙁 .
An diesem Wochenende war meine „Befindlichkeit“ auf 9, also ziemlich scheisse. Ich war enttäuscht das ich NIE Besuch bekam. Manche schämten sich auch hier her zu kommen, sie könnten ja gesehen werden. OMG! Meiner Begleitung ging es ähnlich. So saßen wir dann auf der Mauer, ich hatte mich noch nie in meinem Leben auf eine Betonmauer gesetzt wo eher die andere (manche sagen untere) Schicht von Menschen sitzt. Es war Premiere – sitzen und ich meine sogar es war Bier aus der Dose, das wir uns damals kauften und daran nippten! Wahnsinn … aber dieses Gefühl war gut, anders, mal aus der Reihe zu tanzen, nicht so sein als erwartet. Und meine anfängliche Angst, es könnte mich jemand erkennen, wurde von Stunde zu Stunde weniger.
Trotz wenig Lachen war es eine Erfahrung für mich
Wieder Zuhause wieder angekommen, (ich ertappte mich immer häufiger von meinem Zuhause zu sprechen), setzte ich mich zu meinem Tagebuch und begann zu schreiben. Ich war erstaunt über mich und wusste nicht, sollte ich mich schämen oder sollte ich stolz sein auf mich … auf einer Mauer gesessen zu haben, barfuss, ohne Lippenstift, ungestylt und mit einer Dose Radler in der Hand, mit einer jungen Frau, die meine Tochter sein könnte und mich zu ihrer Heldin des Tages machte! Neue Gefühle kamen hoch und ich nahm das Gefühl in der Mitte. #nichtschlechtundabundzuerlaubt#
Die Nacht war unruhig und ich belästigte die Nachtschwester mehrmals. Alte Geschichten, Schmerzen und Panik holten mich Nachts wieder ein. Mein zweites „ICH“ gewann diese Nacht …
Bauchtanz, Meditation und ein Vertrauensspiel mit meiner Therapeutin – all das wartete auf mich in den nächsten Tagen! 🙂
Bis in 2 Wochen wieder, wenn DU magst, ICH würd mich freuen 🙂
Kennst du schon die weiteren Teile der Alltagsgeschichten?
Alltagsgeschichten B102 #1
Alltagsgeschichten B102 #2
Alltagsgeschichten B102 #3
Alltagsgeschichten B102 #4
Alltagsgeschichten B102 #5
Alltagsgeschichten B102 #6
Alltagsgeschichten B102 #7
Alltagsgeschichten B102 #8
Alltagsgeschichten B102 #9
Alltagsgeschichten B102 #10
TOLL einfach Authentisch und berührend. Kann total mit dir mitfühlen und dein Stil wie du schreibst gefällt mir sehr gut ? freu mich schon auf eine Fortsetzung. Alles liebe Barbara
Hallo Barbara!
Ich freu mich immer sehr wenn ich ein „öffentliches“ Feedback erhalte ? ! Danke DIR dafür! Ein klein wenig „anders“ bin ICH sowieso und entweder man mag es oder mag es nicht. Und das ist auch völlig Ok so. Jedenfalls finden sich immer irgendwie die Richtigen ? .
Lesestoff – kann ich dir versprechen, bekommst du jedenfalls genug von mir, bis dahin … NUR das Beste
XO Sandra