Vorurteile hat jeder, auch ich war vollgetopft damit. Mit Erlaubnis meiner „Hauptdarsteller“, möchte ich dir hier, in nicht zu trockener Form, all das widerspiegeln was ich in der langen Zeit so erleben durfte! Auch um zu zeigen, dass es nicht immer nur traurige Tage gegeben hat, sondern auch durchaus etwas zum Lachen. Ich würde mich freuen wenn du mich dabei begleiten würdest. 🙂
Einleitung
Vor fasst 1,5 Jahren hab ich mich freiwillig dazu entschlossen, nach 2 Burnouts, einer Chemo und einem langen Aufenthalt in der „5 Minuten vor 12“ Station, weiter an mir zu arbeiten und mich für mehrere Monate in die Kepler Universität zu begeben. Seit dem Tag wurde mir erst klar, was Überwindung wirklich bedeutet!
Der Tag X war fasst da
Ein Monat war nur zwischen dem einem und dem nächsten Klinikaufenthalt vergangen. Im Normalfall wird man auf eine Warteliste gesetzt und muss etwas Geduld mitbringen. Ich war allerdings sehr froh darüber so rasch „einrücken“ zu dürfen.
Zu Hause hielt ich es kaum aus, und in meinem Kopf spielten sich NUR Horrorszenarien ab. Ich hatte zwar furchtbare Angst mich auf etwas neues Längerfristiges einzulassen, anderseits schämte ich mich! Bitte wer macht schon freiwillig so einen Schritt? Da ich ja beschloss mir eine Auszeit zu geben, meinen Job ohne viel nachzudenken hinter mir ließ, sagte ich zu der Hand voll Menschen die mir zu diesem Zeitpunkt noch wichtig waren „ich werde jetzt das tun was ich schon viel früher hätte tun sollen, auf MICH schauen und an mir arbeiten“. Mehr erwähnte ich nicht. Die Scham war grösser als alles andere.
Check-In in mein für viele Wochen neues Zuhause
Eine Freundin, die ich beim vorigen Klinikaufenthalt kennenlernen durfte, hat sich an diesem Tag um mich total verstörtes grosses Mädchen angenommen. Sie verbrachte die Nacht zuvor bei mir und konnte meinen spontanen morgendlichen Entschluss lieber doch nicht zu fahren, mit viel Zureden und Händchen halten bei Seite schieben!
Ich handelte sicherheitshalber mit ihr aus, dass sie mich wieder mit nach Hause nimmt, falls ich mich nicht wohl fühlen sollte. UND – sie musste so lange bleiben bis ich mein Zimmer bezog, auf etwas anderes ließ ich mich nicht ein! Als sie mit OK antwortete, gings mir besser …
Die 40 Minütige Hinfahrt, muss für sie der reinste Horror gewesen sein!
Es ist bei mir einfach so wenn ich nervös, aufgeregt bin oder ein Unwohlsein in mir habe, rede ich entweder ununterbrochen aus Verlegenheit und meistens springe ich dabei von einem Thema zum anderen oder – ich bin beinahe tot. Dazwischen gab es nichts! (Das entweder oder Denken). Für diesen Morgen entschied ich zu reden, sehr viel zu reden, ich möchte beinahe sagen ich hatte kaum Zeit Luft zu holen … aber auch das ertrug sie tapfer und ich war ihr unendlich dankbar!
Nach der Anmeldung zog ich meinen Koffer (in der Zwischenzeit war ich sehr still geworden und mein ganzer Körper juckte) hinter mir her. Und da standen wir nun. „B102 Psychosomatik – Herzlich willkommen“ stand auf der riesigen Glastür. Mit Fensterfarbe darauf gemalt. Blumen, Vögel und Schmetterlinge … all so kindisches Zeug! Das was ich mir in diesem Moment dachte murmelte ich auch vor mir her…
„Willst du nicht hinein gehen?“ fragte mich meine Freundin. Ich konnte mich nicht bewegen, nichts sagen und schon gar nicht die Türschnalle angreifen … Ich bemerkte wie die Schwestern, sie saßen in einem rund gebauten Glaskomplex, uns von drinnen beobachteten. Ich glaube eine davon sah mir meine Panik an und schoss aus ihrem „Reich“ hervor, öffnete uns die Tür, nahm mir die Unterlagen aus der Hand und sagte mit ruhiger rauchiger Stimme „Herzlich willkommen Frau L., sie sind richtig hier!“.
„Wieso wusste sie wer ich bin?“ dachte ich mir, und als ob sie das Fragezeichen in meinem Kopf lesen konnte, sagte sie „Es ist so üblich das wir verständigt werden, wenn sich ein neuer Patient angemeldet hat“. OK, Kontrolle pur ging mir durch den Kopf. Ich musste auf das vollständig Zusammentreffen der „Neuen“ warten. 4 sollten noch kommen. In der Zwischenzeit wurde ich gewogen, gemessen, musste einen Drogen- und Alkohol-Test machen und durfte danach Platz nehmen.
Es ging alles so schnell, daß ich gar keine Zeit hatte darüber nachzudenken. Meine Freundin kam mir mit einem Automaten-Kaffee entgegen, den sie mir unaufgefordert in meine feuchte Hand drückte. „Und?“ fragte sie ruhig und nahm gleichzeitig meine ekeligen nassen Hände in die ihren.
DAS hätte sie nicht fragen sollen. Ich glaub ich schrie sie sogar an und meinte „Was? Ich musste jetzt neben der Schwester in den Becher pinkeln, und sie hat mich tatsächlich blasen lassen … um 9 Uhr morgens! Schau ich wirklich so schlimm aus? Ich hab weder ein Drogen- noch ein Alkoholproblem! Ich bin hier falsch, ich möchte hier nicht bleiben …“ so ungefähr war meine Antwort auf ihr gefragtes UND. Wir einigten uns bis zur Zimmereinteilung und mit wem ich es teilen würde, zu warten. Ich tat ihr den Gefallen, aber nur sehr ungern.
Meine roten Flecken verteilten sich am ganzen Körper als ich die Zeit fand, mir die schon länger anwesenden Patienten genauer anzusehen. Und wieder ein halblautes „Ich pass einfach nicht hier her“… 2 Männer, der Rest waren Frauen, besser gesagt sehr junge Mädels, ICH war definitiv die Oma hier. Der Raum, in dem wir warteten, war auch gleichzeitig der Essenbereich, direkt neben den Schwestern die alles im Blickfeld hatten. Ein grosser verwachsener Balkon wo sich Raucher und Nichtraucher trafen. Den Balkon benutzte auch die Psychiatrie gegenüber. Ein Zusammenkommen war ausdrücklich verboten. Eigentlich musste ich ja den Anblick von verbundenen Armen und Beinen, blauen Flecken und verstörten Blicken gewohnt sein dachte ich mir, ich bin ja selbst so rumgelaufen … und doch trieb es mir die Tränen in die Augen. Ich konnte jeden vollbrachten Schnitt, den sich die Frauen selbst zugefügt hatten, spüren … ein weiteres Mal wär ich am liebsten davon gelaufen …
Aus meinen Gedanken wurde ich von einer Schwester gerufen – alle waren nun da und die Zimmereinteilung folgte inklusive Bett-Nachbarin. Nummer 8 Frau Sandra L. und Frau S. R. hieß es. Keine Ahnung wer das war, ich zog meinen Gepäck durch den Gang und blieb vor der Nr. 8 stehen. Meine Freundin öffnete und sagte sofort „Gross ist es“, “ Ja, und es sieht aus wie ein Internatszimmer für geistig Kranke …“ das war mein Eindruck. Ich setzte mich aufs Bett und sagte ein weiteres Mal das ich hier nicht bleiben kann und deplatziert sei! Es folgte eine Panikattacke vom Feinsten. Als es klopfte öffnete meine Freundin die Türe und die Schwester stand mit meiner Zimmerkollegin in der Tür.
Es war mir wirklich egal mit wem sie da ankam, Hauptsache mein Panikanfall legte sich. Meine Freundin wurde aufgefordert zu gehen. „Ich gehe ebenso, ich halt es hier nicht aus, ich pass nicht hier her, vielleicht ist es auch noch zu früh, ich bekomm da keine Luft“ schrie ich heraus … Die Schwester nahm mich mit ins Sprechzimmer und versuchte mir einiges zu erklären. Angeblich sagen das viele Patienten, die neuen Eindrücke, die fremden Menschen, es ist alles sehr viel auf einmal. Ich solle mir die 3 Wochen zur „Eingewöhnung“ geben und erst danach entscheiden ob ich bleibe oder abbreche. Es wäre sehr schade wenn ich es schon bis hierher geschafft habe und jetzt das Handtuch schmeisse.
Da ja mein Ziel war viel zu lernen und gefestigter wieder nach Hause zu gehen, willigte ich ein. Ich verabschiedete mich tränenreich von meiner Freundin, die sich 10 mal umdrehte bis sie zur Tür hinaus war. Und ICH? ICH stand vor meiner Zimmerkollegin, die riesige Augen hatte und knallrote Haare mit einem Grinsen im Gesicht als sei Weihnachten und Ostern zu gleich …
Warum das so war, erzähle ich dir das nächste Mal … genauer gesagt in 14 Tagen 🙂
Kennst du schon die weiteren Teile der Alltagsgeschichten?
Alltagsgeschichten B102 #1
Alltagsgeschichten B102 #2
Alltagsgeschichten B102 #3
Alltagsgeschichten B102 #4
Alltagsgeschichten B102 #5
Alltagsgeschichten B102 #6
Alltagsgeschichten B102 #7
Alltagsgeschichten B102 #8
Alltagsgeschichten B102 #9
Alltagsgeschichten B102 #10
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