Es begann unser gegenseitiges „Beschnuppern“
Nach dem Abendessen sammelten wir uns dann in der „Gemeinschaftsecke“, der Platz für all diejenigen die eben nicht allein sein wollten oder ein Mitteilungsbedürfnis hatten. Ich ließ zum ersten Mal mein rotes Sofa im Stich. Ich glaub es war Melanie, die uns mit frischem Kaffee versorgte ohne viel zu fragen. Und es war Gabriela, die als Erste zu fragen begann. Ich glaube sie konnte es kaum erwarten von jedem Einzelnen den neuesten Stand zu erfahren. In ihrer liebenswürdigen Art mit zugespitzten Lippen und ihrer kleinen Stupsnase samt Pausbäckchen fragte sie “und … warum seid ihr alle hier?“
Evi, unsere Essensverweigerin und sonst so Stille, gab als erste ihre Info ab. „Ich bin schon seit 4 Wochen da!“ Mehr kam nicht, weil sich das „warum“ erübrigte wenn man sie sah.
„Ich bin seit gut einer Woche hier, hab die Koffer in der Zwischenzeit 10 mal gepackt weil ich mir nicht sicher bin hier richtig zu sein“ sagte ich. Mehr kam fürs Erste nicht von mir. Von Gabriela kamen immer wieder Zwischenworte wie „Aha, pah jo oder mhm…“. Ich glaube auch das SIE ihre Geschichte am Schluss bringen wollte, sie lies Meli den Vortritt.
Alle Blicke waren auf Meli gerichtet, sie kiefelte an ihren Piercings rum und sagte dann “Ich bin überfordert … mit allem! Ich habe Panik und Angst, hab einiges auf zu arbeiten was meinen Ex-Mann betrifft und habe auch immer wieder Schuldgefühle. Ich hab meinen Job nicht mehr, hatte einen Autounfall und kann seit dem nicht mehr fahren weil ich zu grosse Angst habe. Ich halte keine Menschenansammlungen mehr aus und fühl mich einfach nur schlecht. Wenn mich dieses Gefühl wieder in seinen Bann zieht, kommt es vor das ich mir meine Gel-Nägel einfach abziehe bis der Nagel ganz dünn ist, zupf an meinen Wimpern oder epiliere mich bis Blut läuft. Sie versuchte dabei cool zu bleiben, als sie uns davon erzählte, kämpfte aber mit den Tränen …
… Gabriela hatte ebenfalls einen Blick aufgesetzt, den ich gar nicht sehen konnte. Evi zog nur den Mundwinkel hoch. Nach einer kurze Pause des Schweigens, begann Gabriela mit ihrem „Pah-Jo“ … also … Sie rutschte bequem in den Sessel und betrachtete ihre lackierten Nägel während sie anfing zu reden. Mir gehts irgendwie ähnlich, ich bin mit Haushalt und meinen 4 Kindern total überfordert. Ich bekomm Schrei- und Wutanfälle und wenn gar nix mehr geht geh ich einfach ins Bett und schlafe SOFORT ein um den ganzen Wahnsinn zu entfliehen. Nachher fühle ich mich schlecht und glaube auch keine gute Mutter zu sein. Mein Ex-Mann kommt immer wieder um Geld und kümmert sich nicht einmal um seine Kinder!
Mir ist aufgefallen das sie immer lauter wurde, dabei nervös ihre Hände und Füsse ansah. “Ich stopfe mir abends Chips, Knabernossi und Nutella rein, trinke manchmal zu viel oder geh raus in die Nacht … nach diesem Satz begann sie zu weinen.
Ich setzte mich wieder unter meine Käse Glocke
ICH war überfordert und konnte mit solchen Situationen überhaupt nicht umgehen – wie auch, ich kam ja mit meiner eigenen schon nicht klar. Und das obwohl ich vorher schon 6 Wochen auf einer „schlimmeren“ Station verbracht hatte! Ich ärgerte mich über mich selbst, stand unangekündigt brutal auf, drückte mir meine Kopfhörer in die Ohren und ging nach draussen. Ich war darüber sehr froh denn in der Zwischenzeit wusste jeder, wenn ich die Dinger in den Ohren hatte, wollte ich meine Ruhe und man sollte mich besser jeder in Ruhe lassen! Ich drückte auf Play und und hörte mir MEINEN Song an „Alles wird besser werden“ von Xavier Naidoo. Ich wurde wieder zum Adler der gerne wegfliegen wollte, aber nicht konnte da er es verlernt hatte und mir die Flügel gestutzt wurden …
Da ich mir sehr schwer mit dem Weinen tat, obwohl mir danach war, hab ich mir ein Hilfsmittel zu nutze gemacht. Musik – die mich berührte oder mich an schöne Momente erinnerte. Dann ging es und es war eben wieder so ein Moment, mir taten die drei Mädels so leid, dass ich komplett vergaß warum ICH hier war, auf mich vergaß.
Ich glaube mehr als ein „Schlaft gut Mädels“ war nicht mehr an diesen Abend. Ich holte mir meine Medikamente vom Stützpunkt und verzog mich in mein Zimmer, dass ich jetzt sehr häufig für mich alleine hatte, weil meine Zimmerkollegin es wohl akzeptiert hatte, daß ich ihr Interesse nicht teilte und mir Männer definitiv lieber waren als Frauen.
Mit den Medikamenten intus funktionierte das Einschlafen von selber und sie beförderten mich rasch ins Bewusstlose …. ich liebte damals dieses Gefühl … Ich wusste ja die Nachtschwester kam nachts einige Male in jedes Zimmer um zu sehen ob alles ok war. Bei den Neuen und den „Problemfällen“ war dies beinahe alle 1-2 Stunden. Ich war immer nur geblendet wenn sie mir brutal ins Gesicht leuchtete. Am nächsten Morgen kam die Schwester zu mir und fragte ob ich mich kurz zu ihr aufs Bett setzen möchte. Sie hatte Glück weil ich mochte sie und ihr gütiges ehrliches Lächeln.
„Wissen sie eigentlich, daß sie sich jede Nacht selbst ganz fest in den Armen halten? Oder sich selbst liebevoll die Hand geben? Oder einfach nur ihre Hand ins Gesicht legen als würden sie sich streicheln?“ – Blöde Frage, natürlich wusste ich es nicht und ich konnte es mir auch nicht vorstellen! UND – es war mir sowas von peinlich! Einer meiner ersten Gedanken dazu war, dass ich jetzt sicher eine Tablette zusätzlich bekommen werde. “Mein Dienst ist zu Ende, aber ich wollte ihnen das noch sagen, denken sie mal darüber nach, was ihnen das zeigen soll“. Mit einem „schönen Tag, wir sehn uns am Abend und ich würde gerne ihre Gedanken dazu wissen“ war sie aus der Tür.
Neuer Tag – besserer Start? Nö.
Super – der Tag begann genau so wie ich es NICHT mochte. Ich sollte mich mit MIR auseinander setzen.
Um 8.00 Uhr begannen für die Meisten die Therapien. Es war noch nicht mal 7.00 und ich saß schon auf der Terrasse, diesmal bei den Rauchern – wenn ich mich nicht wohl fühlte griff ich bis dato immer wieder zu einer Zigarette. Besser gings mir danach aber auch nicht.
Beim Frühstück trafen wir uns wieder, Meli, Evi, Gabriela und ich. Sie hatte es so gedeichselt das wir alle an einem Tisch zusammen waren. Evi musste bei der Essstörungsgruppe sitzen, wo immer eine Schwester dabei war und das Essen richtig zelebriert wurde. Der Platz neben mir gehörte meiner Zimmerkollegin, die erst 5 Minuten vor jeder Therapie in den Tag startete. Wie das ging? SIE konnte das perfekt.
In unseren Vertrag den wir unterzeichnet hatten stand auch das wir uns um andere NICHT zu kümmern haben, dafür gibt es das Personal. Daran hielt ich mich auch, ich weckte sie vielleicht 2 oder 3 mal während unserem Aufenthalt, öfter nicht und es fiel mir auch erstaunlicher Weise nicht sehr schwer mal nicht die „Mama“ zu spielen!
Der gestrige Abend wurde nicht erwähnt und so schlürften wir unseren Kaffee, holten uns unsere Medikamente ab und begannen um 8.00 mit der Gruppentherapie. Die sah so aus, dass mindestens 2-3 Therapeuten, 2 Schwestern dabei waren und manchmal auch ein Arzt, der dann auch durch die Stunde geführt hat. An diesen Morgen war es eben genauso.
Es war genau DIESER Arzt bei dem ich das Erstgespräch bei meiner Aufnahme hatte. Ich mochte ihn überhaupt nicht! Nicht nur seine unsympathische Ausstrahlung und seine provokante hochnäsige Art, die er mir entgegen brachte, machte mich beinahe zur Mörderin. Ich kam mir vor als würde er mich verscheissern und nicht ernst nehmen! – NEIN, das genügte alles nicht! Seine gestellten Fragen wie “Sehen sie manchmal rosa Elefanten?“ (kein Scherz!) oder „Wann hatten sie das letzte Mal Sex?“ und „Befriedigen sie sich oft selber?“ (nur um ein paar Beispiele zu nennen …) machten seine Anwesenheit für mich noch unerträglicher.
Ja und so begann meine zweite Gruppentherapie. I love it 🙁
Kennst du schon die weiteren Teile der Alltagsgeschichten?
Alltagsgeschichten B102 #1
Alltagsgeschichten B102 #2
Alltagsgeschichten B102 #3
Alltagsgeschichten B102 #4
Alltagsgeschichten B102 #5
Alltagsgeschichten B102 #6
Alltagsgeschichten B102 #7
Alltagsgeschichten B102 #8
Alltagsgeschichten B102 #9
Alltagsgeschichten B102 #10
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